Das Coming-Out eines CEOs

Adrian Berchtold
Mit 18 vertraute er sich seinen Eltern an, erst weitere 18 Jahre später bekennt sich Adrian Berchtold auch öffentlich zu seiner Homosexualität. Der Ruckstuhl-Chef will damit nicht nur sich selbst befreien.

Adrian Berchtold ist seit 2018 in der Geschäftsleitung und seit letztem Jahr Mitinhaber der Ruckstuhl AG. Die älteste Teppichmanufaktur der Schweiz stellt seit 1881 Naturfaser-Teppiche her. In Zusammenarbeit mit international erfolgreichen Designerinnen und Designern entstehen exklusive textile Bodenbeläge und Produkte für den Wohn- und Objektbereich, bei Bedarf auch Sonderanfertigungen nach Mass. Ab Mitte der 1960er-Jahre baute das Familienunternehmen Ruckstuhl das Exportgeschäft mit den Schweizer Teppichen kontinuierlich aus. Heute werden fast zwei Drittel des Umsatzes im Ausland getätigt – in Europa, in den USA und im Fernen Osten.

«Wir sind froh und glücklich, sind wir hier alle sehr verschieden.»

In der Manufaktur kommen um die 30 Mitarbeitende aus 16 Nationen zusammen. Geschlecht, Herkunft, Ethnie, Religion, Politische Meinungen und sexuelle Orientierung sind Nebensache. Wie und mit wem die Mitarbeitenden ihre Freizeit verbringen, sei ihre Privatsache. Die Manufaktur sei ein neutraler Ort, wo man sich mit Respekt begegnet, aufeinander zu geht und sich dennoch als Individuum entfalten kann.

Man kann es wohl Ironie des Schicksals nennen, dass vor zwei Jahren ausgerechnet ein Werbebrief der Zeugen Jehovas zu Adrian Berchtold’s Befreiungsschlag führt. Einer Religionsgemeinschaft, die Homosexualität als Sünde betrachtet. Unter normalen Umständen hätte er dem Schreiben vermutlich gar keine Beachtung geschenkt, aber im Pandemiejahr 2020 habe er viel Zeit zum Nachdenken über seine Lebenssituation gehabt. Und genau dann kam der Brief an den Oberaargauer Geschäftsführer, mit der Aufforderung, sie sollten die Botschaft weitertragen von der Familie als höchstes Gut, von der Wichtigkeit der Fortpflanzung und dem Weg, der gegen eine kleine finanzielle Abgabe an die Religionsgemeinschaft direkt in den Himmel führe.

Ardian Berchtold antwortete den Absendern und schickte seine Reaktion auch an das «Mannschaft»-Magazin, einer führenden Plattform der Gemeinschaft lesbischer, schwuler, bisexueller und transgender Menschen im deutschsprachigen Raum. «Ich bin schwul und deswegen kein besserer oder schlechterer Chef – So reagiert ein Unternehmer auf Post von den Zeugen Jehovas», titelt das Magazin Mitte November.

Er habe mit seinem Coming-out nicht nur sich selbst befreien, sondern auch ein Zeichen setzen wollen, sagt er heute. All jenen jungen Menschen, die fühlen und durchleben, was er fühlte und durchlebte. Aber auch all den Geschäftsführer/innen, an die sich die Zeugen Jehovas mit ihrem Brief richteten. Vielleicht könne er bewirken, dass auch sie sich Gedanken machen und für sich entscheiden, dass die sexuelle Ausrichtung eines Menschen keine Rolle spielen sollte.»

Wir freuen uns sehr, dass Adrian Berchtold seine Geschichte und Führungserfahrungen mit der ersten Klasse unseres «CAS Leadership and Inclusion» teilen wird.