Steigende Krankenkassenprämien: Ineffizienz oder Qualität?

Finanzen
«Same procedure as every year», wenn alljährlich vom Bundesrat die Erhöhung der Krankenkassenprämien angekündigt wird. Auch 2024 geht diese Entwicklung weiter, mit einem Anstieg von durchschnittlich satten 8,7 Prozent. Weshalb steigen die Kosten im Gesundheitswesen seit Jahren immer weiter? Und wird der Anstieg durch ein besseres Angebot gerechtfertigt oder läuft in unserem Gesundheitssystem etwas schief?

Dr. Fridolin Marty ist Leiter Gesundheitspolitik bei economiesuisse. Im firmenspezifischen Programm von Rochester-Bern in Zusammenarbeit mit der Insel Gruppe unterrichtet er im Lehrgang Management. Der erfahrene Gesundheitsökonom führt die Teilnehmenden in die Funktionsweise des Schweizer Gesundheitswesens ein und zeigt auf, wie politische Massnahmen und Regulierungen sich auf den Arbeitsalltag in Spitälern auswirken.

«Es ist ein langfristiger Trend, dass die Gesundheitskosten stärker steigen als das BIP. Dies hat damit zu tun, dass die Gesundheit immer wichtiger wird und sich das Gesundheitswesen konstant weiterentwickelt und verbessert. Gleichzeitig ist das Gesundheitswesen aber auch nicht so effizient wie andere Märkte», fasst Marty die Situation zusammen.

Ist unser Gesundheitswesen ineffizient?

«Wir könnten die gleiche Qualität unseres Gesundheitswesens auch mit weniger Geld aufrechterhalten, wenn das System besser funktionieren würde», sagt Marty. Gemäss ihm gibt es verschiedene Faktoren, die dazu führen, dass unser Gesundheitswesen teils Ineffizienzen aufweist.

Einer der wichtigsten Aspekte ist die Drittzahlerproblematik – Jene Personen, welche die Kosten verursachen, sind nicht die Gleichen, die diese bezahlen. Dadurch entsteht eine Fehlallokation der Ressourcen. Oder in anderen Worten: Weder die Ärzt/-innen noch die Patient/-innen haben ein Interesse daran, die Kosten niedrig zu halten.

Dr. Marty sieht auch in der Überregulierung eine Quelle der Ineffizienz: «Im Gesundheitsmarkt nutzen wir die Wettbewerbskräfte nicht genügend». Z.B. würden die Krankenkassen durch zunehmende Vorgaben immer weiter vereinheitlicht. Die Konsequenz sei immer weniger Wettbewerb und immer mehr teure Bürokratie.

«Wir versuchen Ungleichheiten durch Regulierung auszumerzen und kreieren dadurch Ineffizienzen», so Marty. Die Zahnmedizin zeige dies: «Im Gegensatz zu Deutschland zahlen Schweizer ihre Zahnmedizin selbst. Nun würde man erwarten, dass die Zahngesundheit dadurch bei uns schlechter ist und ungleicher verteilt, als im Nachbarland. Doch das Gegenteil ist der Fall. Der Grund dafür liege darin, dass die Schweiz reicher ist, weil wir gewisse Märkte weniger regulieren. Der Faktor, dass eine reiche Gesellschaft gesünder ist als eine arme, wiegt stärker als der regulatorische Ausgleich», fügt er hinzu.

Mehr Qualität heisst höhere Kosten

«Ein grosser Teil der steigenden Gesundheitskosten lässt sich durch mehr Qualität rechtfertigen», sagt Marty. Die Lebenserwartung in der Schweiz gehört zu den höchsten der Welt und steigt stetig an. Für Männer beträgt sie gemäss Bundesamt für Statistik 81 Jahre und für Frauen 85 Jahre. Und auch die Lebensqualität nimmt zu. «Eine erfolgreiche Hüftoperation, ist in der Lebenserwartung nicht zu sehen, kann für die betroffene Person aber zu bedeutend mehr Lebensqualität beitragen», so Marty.

Im internationalen Vergleich schneidet die Schweiz ebenfalls gut ab. In Untersuchungen, die das Gesundheitswesen analysieren, belegt sie regelmässig Spitzenplätze. «Es gibt immer wieder Leute, die behaupten, unser Gesundheitssystem hätte keine gute Qualität. Da bin ich anderer Meinung. Oft werden wir dabei mit Ländern wie Singapur oder Israel verglichen. Doch diese Länder sind ganz anders aufgebaut und haben z.B. eine viel jüngere Bevölkerung», so Marty.

Für die ärmeren Schichten der Bevölkerung stellen die wachsenden Prämien der obligatorischen Krankenversicherung eine finanzielle Bürde dar. Rund 25 – 30 Prozent sind gemäss swissinfo auf Prämienverbilligungen in Form von Zuschüssen angewiesen. «Die Klagen der Bevölkerung müssen wir ernst nehmen. Gleichzeitig sollten wir auch einsehen, dass das System von den Bedürfnissen der Bevölkerung getrieben ist. Wenn die Leute sich zwischen einer Einschränkung des Leistungskatalogs oder höhere Prämien entscheiden müssen, wählen sie meist die besseren Leistungen, was Volksabstimmungen beweisen», so Marty.

Und was ist mit der Demografie?

Oft wird bezüglich der steigenden Krankenkassenkosten die Demografie als Haupttreiber genannt. «Meine Einschätzung ist, dass das Alter ca. 8 – 13 Prozent des Kostenanstiegs ausmacht und nicht 20 Prozent wie andere Stimmen behaupten. Die Red-Herring-Hypothese hat diese Sichtweise in Frage gestellt», sagt Marty.

Der Red-Herring-Hypothese zufolge werden die Auswirkungen der demografischen Alterung auf die Gesundheitsausgaben überschätzt. Die Gesundheitsausgaben verlagern sich im Zuge einer steigenden Lebenserwartung häufig in ein höheres Lebensalter. Nicht das Alter entscheidet über die Kosten, sondern grundsätzlich die Kumulation der gesundheitlichen Probleme vor dem Ableben. Wenn man älter wird, so kumulieren sich auch die Probleme später. «Die letzten Lebensjahre sind teurer – unabhängig davon, ob eine Person mit 50 oder mit 90 stirbt – es ist aber kein Treiber der steigenden Gesundheitskosten», so Marty. In allen Altersgruppen sei die Kostenentwicklung ähnlich stark gestiegen.

Anders sei es bei der Pflegeleistung. Diese haben einen starken Altersgradienten, da ältere Leute viel mehr Pflege benötigten. Während junge Menschen kurzfristig meist von ihrem Umfeld gepflegt werden können, sind ältere Personen oft über längere Zeit pflegebedürftig auf Unterstützung vom Staat angewiesen. «Bei der Pflege greift die Red-Herring Hypothese nicht, aber ihr demografischer Effekt ist überschaubar. Viele andere Kräfte spielen für die Gesundheitskosten eine Rolle», so Marty.

Wie geht es weiter?

Gemäss Marty werden die Gesundheitskosten in den nächsten Jahren weiter ansteigen. «Die Kostenproblematik wird bleiben, aber sie wird von einem Versorgungsproblem überschattet», so seine Prognose. Die geburtenstarken Jahrgänge gehen in den nächsten Jahren in Pension. Die Folge: Leistungserbringer (z.B. Ärzt/-innen und Pflegepersonal) werden zu Leistungsnehmern (kranke und pflegebedürftige Personen). Als Konsequenz entsteht ein Mangel an Fachkräften und somit ein Versorgungsproblem.

«Wenn wir das Versorgungsproblem lösen möchten, brauchen wir Offenheit gegenüber neuen Technologien sowie effizientere Entschädigungen und Finanzierungsformen», so Marty. Hebel hätten wir genug, um das System wettbewerbsfähiger zu gestalten. Es sei eher eine Frage des Willens von Seite der Politik, aber auch der Bevölkerung. Bei all den Herausforderungen, welche die Zukunft bringt, sollten wir nicht vergessen, dass unser Gesundheitssystem weiterhin eines der leistungsstärksten der Welt ist. Um die Anfangsfrage zu beantworten: Der Anstieg der Krankenkassenprämien lässt sich zu einem grossen Teil durch die Qualität unseres Gesundheitssystems rechtfertigen. Ein weiterer Teil entsteht durch Ineffizienzen aufgrund von mangelndem Wettbewerb und schlechter Regulierung.