Um zu verstehen, was Asien der Schweiz voraus hat, erläutert Fasnacht erstmals, wie Wertschöpfung neu gedacht werden kann und welche Idee hinter offenen und digitalen Ökosystemen steckt. Anschliessend erklärt er neue Konzepte, die in Asien bereits viel verbreiteter sind als bei uns. Die Unterschiede können mit unserer SBB und dem Bullet Train aus China verglichen werden.
«Wir alle kennen lineare Geschäftsmodelle», sagt Fasnacht. In diesen besteht eine unilaterale 1:1-Beziehung zwischen Produzenten und Konsument/-innen. Die Zukunft liege aber in multilateralen Geschäftsmodellen, in denen die Konsumentinnen und Konsumenten im Zentrum stehen und verschiedene Rollen einnehmen können: bevor sie etwas kaufen, bestimmen sie gleichzeitig das Produkt oder die Dienstleistung mit. In so einem Modell verhalten sich die Skalierungsmöglichkeiten anders – durch Netzwerkeffekte kann exponentielles Wachstum erreicht werden.
Auch die Idee der Wertschöpfungsketten ist veraltet. Sie basieren immer noch auf dem «Closed Innovation»-Ansatz, wo Hersteller am Beginn und Konsumierende am Ende des Prozesses stehen. Die Produkte und Dienstleistungen werden in der Regel innerhalb der Unternehmensgrenzen entwickelt und vermarktet. Ein Wertschöpfungssystem folgt dem Prinzip von «Open Innovation», d.h. es werden während der Innovation und Distribution externe Ressourcen und Leistungen anderer Unternehmen integriert und Daten geteilt. Im Gegensatz zu Wertschöpfungsketten findet hier Co-Innovation statt, bei der Unternehmen gemeinsam nach Lösungen suchen. Innovationen werden in Zusammenarbeit, auch unter Einbezug von Kund/-innen, entwickelt, wodurch eine vernetzte Produktion entsteht und Kundenwünsche besser bedient werden können.
Die Idee eines offenen und digitalen Ökosystems ist, dass Unternehmen über Organisations- und branchengrenzen hinweg zusammenarbeiten, um die besten Lösungen für Kundinnen und Kunden zu schaffen. Neue Technologien werden miteinander verknüpft und können so Innovationspotentiale besser nutzen. Die Nutzer/-innen profitieren von einem nahtlosen Kundenerlebnis: Sie merken nicht, dass verschiedene Firmen und Branchen beteiligt sind, sondern nur, dass ihre Bedürfnisse befriedigt werden.
«Im Zentrum des Ökosystems steht ein Werteversprechen», sagt Fasnacht. Alle im System müssen ein gemeinsames Verständnis davon haben, welcher Nutzen verfolgt wird. Die Akteure sind im System vernetzt und teilweise vermischen sich die Rollen, so können Nutzer/-innen auch zu Produzenten werden, wie etwa bei Youtube, bei der die User auch die Inhalte erstellen.
Ein Beispiel für ein Unternehmen, das ein Ökosystem geschaffen hat, ist das chinesische Unternehmen Tencent. Gemessen an der Börsenkapitalisierung ist es eines der grössten Unternehmen der Welt. Tencents Dienstleistungen umfassen soziale Netzwerke, Musik, Webportale, E-Commerce, mobile Spiele, Internetdienste, Zahlungssysteme, Smartphones und Multiplayer-Onlinespiele. «Das Unternehmen zeigt, dass mit dem Mindset von Open Innovation schnell ein offenes Ökosystem entsteht. Die Vorteile sind die Möglichkeit des Cross-Sellings, der Netzwerkeffekt (alle profitieren von mehr Nutzenden) und die Datenmaterialisierung (die Auswertung und Nutzung von Daten)», so Fasnacht.
Auch die «Super App» gehört in die Ideenwelt eines offenen Ökosystems. «Wir haben verschiedene Apps von diversen Anbietern für unterschiedliche Aufgaben: eine, um Nachrichten abzurufen, eine, um das Zugticket zu kaufen, und so weiter. Mit der Super App haben Nutzer/-innen nur noch eine App, welche die verschiedenen Anbieter integriert und sie merken gar nicht, dass sie Anbieter wechseln», sagt Fasnacht.
China ist der Schweiz bei der Entwicklung disruptiver Geschäftsmodelle, die oft auch auf Wertschöpfungssystemen und digitalen Ökosystemen basieren, weit voraus. «Während QR-Codes bei uns erst während der Corona-Krise populär wurden, waren sie in China bereits 2012 allgegenwärtig. Im Prinzip hinken wir rund zehn Jahre hinterher», sagt Fasnacht. Aber warum ist das so? Die Herausforderungen sind vielfältig:
Der erste Grund, warum China in diesem Bereich die Nase vorn hat, ist der höhere Leidensdruck. Vieles funktioniert weniger gut und deshalb werden neue Lösungen schneller umgesetzt. In der Schweiz hingegen funktioniert das System und der Drang etwas zu verändern ist weniger stark. Oft werden dabei in aufstrebenden Ländern auch Zwischenschritte übersprungen: In China ist man zum Beispiel direkt von der Barzahlung zur Zahlung per App übergegangen. Die Verwendung einer Kreditkarte wurde übergangen.
Der zweite Grund ist, dass wir in der Schweiz dazu neigen, Dinge zu regulieren, bevor sie sich etabliert haben. «In der EU wird bereits über die Regulierung von KI diskutiert, bevor die Innovationen überhaupt entstanden sind», sagt Fasnacht. China hingegen lasse mehr Raum für Innovationen und reguliere erst später, dafür schnell und klar.
Und der dritte Grund ist, dass die Schweiz mehr optimiert als gestaltet. «Wir konzentrieren uns oft darauf, Bestehendes zu verbessern. Das ist auch absolut notwendig und gut. Aber wirkliche Veränderungen, wie sie die digitale Transformation mit sich bringt, entstehen, wenn Altes beseitigt und Neues geschaffen wird», sagt Fasnacht. Bei der digitalen Transformation geht es nicht nur darum, Bestehendes besser zu machen, sondern die Dinge grundlegend neu zu denken, und hier kann sich die Schweiz von Asien eine Scheibe abschneiden.
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