«Langfristig betrachtet, sind gewaltvolle Konflikte in der Welt drastisch gesunken», sagt Gehring. Damit widerspricht er der weitverbreiteten Meinung, dass es immer mehr Konflikte gibt. Die Medien vermitteln in dieser Hinsicht ein verzerrtes Bild, doch die Zahlen sprechen klare Worte: Seit den 50er Jahren haben sowohl Kriege als auch Gewaltdelikte stark abgenommen.
Gehring verweist als Erklärung für den Rückgang von Gewalt auf das Buch «The Better Angels of Our Nature», in dem vier Trends genannt werden: Der Erste ist der Aufstieg «organisierter Staaten». Damit ist z. B. gemeint, dass immer mehr Staaten über eine funktionierende Polizei verfügen. Der zweite Trend ist die Alphabetisierung, die zu mehr Verständnis und Wohlstand führt und somit auch zu weniger Konflikten. Als dritter Punkt nennt er den Handel und das Gewerbe. Dahinter steckt die Idee, dass mehr wirtschaftliche Zusammenarbeit mehr Wohlstand und Abhängigkeit mit sich bringen. Der letzte Trend ist die Förderung der Menschenrechte, welche ebenfalls zu einem gemeinsamen Verständnis und friedvollen Zusammenleben führen sollen.
«Konflikte sind mit Kosten verbunden und zerstören Wert», sagt Gehring. Trotzdem kommt es immer wieder zu gewaltvollen Auseinandersetzungen, wie 2022 dem Ukraine-Krieg. Warum ist dies so? Der Autor Chris Blattman bietet in seinem Buch «Why We Fight» Erklärungen. Ein Beispiel ist die Theorie der «unkontrollierten Anführer»: Auch wenn ein Krieg dem Land insgesamt schadet, kann es sein, dass die Kosten für das Staatsoberhaupt gering sind und wenn der Anführer nicht vom Parlament kontrolliert wird, ist sein Anreiz gross, an dem Krieg festzuhalten. Auf das Beispiel des Ukraine-Kriegs angewandt, bedeutet dies, dass Russland zwar unter dem Krieg leidet, die Kosten für Putin aber viel geringer sind und seine Bereitschaft zu verhandeln deshalb klein ist. Hinzu kommt möglicherweise noch eine Fehlwahrnehmung, die dazu führt, dass Putin seine Macht und Chancen zu gewinnen stark überschätzt.
Was bedeutet der Ukraine-Krieg für die Schweiz? Obwohl Krieg selbstverständlich immer eine Tragödie ist, hat der Ukraine-Konflikt auch eine positive Nebenwirkung: Er hat Europa wieder näher zusammengerückt. Seit Beginn des Krieges wurden die europäische Identität sowie das Vertrauen und die Kooperationsbereitschaft innerhalb von Europa gestärkt. Dies zeigen mehrere Befragungen. Wirtschaftlich gesehen, halten sich die Effekte des Krieges auf die Schweiz bis anhin in Grenzen. «Weder Russland noch die Ukraine sind grosse Export- oder Importpartner der Schweiz» erklärt Sturm.
Einen Blick auf die Entwicklung des Welt-BIPs ist ebenfalls aufschlussreich: Die Finanzkrise 2008 zeigte sich deutlich in einem starken Einbruch des BIPs, der sich über die nächsten zwei Jahre langsam wieder erholte. Eine ähnliche Entwicklung war 2020 durch die Corona-Krise zu beobachten. Überraschend bei Corona war, dass sich das BIP sehr schnell wieder erholte. «Die Leute waren zu Hause und haben sich von der Couch aus E-Bikes und iPads bestellt. Dies hat die Wirtschaft angekurbelt. Für Prognostiker war dies eine Überraschung. Viele gingen davon aus, dass es ähnlich wie bei der Finanzkrise zirka zwei Jahre für eine Erholung braucht», so Sturm.
Und vielleicht noch überraschender: Der Ukraine-Krieg spiegelt sich weltweit bis jetzt noch kaum in den Zahlen wider. Auch wenn er in einzelnen Regionen sicher eine starke Auswirkung hat, ist er weltweit noch nicht wirklich zu erkennen – zumindest, wenn das BIP, der Warenhandel und die Industrieproduktion betrachtet werden. Wo es hingegen seit 2021 starke Veränderungen gibt, ist in den Gas- und Ölpreisen sowie in der Inflation. Hier sind die Werte 2022 weltweit rekordverdächtig angestiegen.
Seit der Corona-Krise ist auch immer wieder die Rede von der «Despezialisierung». Unternehmen würden wieder vermehrt regional produzieren und die Globalisierung gehe zurück. Die Zahlen zeigen allerdings ein anderes Bild. Wie man dies misst, erklärt Sturm: «Wenn das Wachstum des Welthandels höher ist als das der gesamten globalen Produktion, gibt es eine Spezialisierung. Denn dies bedeutet, dass die Produkte häufiger versendet werden». Ein Blick auf die Zahlen zeigt, dass die Globalisierung zwischen 1990 und 2005 sehr stark zugenommen hat. Anschliessend verweilt sie auf einem Plateau. In anderen Worten: Seit 2005 wächst der Handel in etwa gleich wie die Industrieproduktion. Auch Corona hat bis anhin daran nichts geändert. «Eine Despezialisierung findet aktuell nicht statt», so Sturm.
China hat in den letzten 50 Jahren ein beeindruckendes Wachstum an den Tag gelegt. Das autoritär geführte Land ist zu einer erstaunlichen Export-Macht geworden. Der Anteil in extremer Armut lebender Menschen hat in China seit 1991 stark abgenommen. Trotzdem sollte nicht vergessen werden, dass es in diesem riesigen Land weiterhin viele sehr arme Menschen gibt und dass das Land auch vor anderen grösseren Herausforderungen steht.
Viele Schweizer Unternehmen riskieren in Bezug auf China eine Export-Abhängigkeit. Das Land ist der fünftgrösste Handelspartner der Schweiz und in gewissen Produkt-Bereichen wie seltene Erden oder Solarzellen beherrscht China den Markt. Das Beispiel der seltenen Erden zeigt, wohin die Entwicklung geht: Studien gehen davon aus, dass sich der Bedarf an seltenen Erden bis 2030 verfünffachen wird. Gleichzeitig produzierte China 2021 60 Prozent der seltenen Erden.
Der Aufstieg Chinas hat unterschiedliche Auswirkungen auf verschiedene Regionen. Der sogenannte «China-Schock» verhilft gewissen Orten zu grösserem Wirtschaftswachstum, während er andere verarmen lässt. Dies zeigt sich gut an den USA. Alles in allem hat der Handel mit China in den USA zu mehr Wachstum geführt. Gleichzeitig gab es aber auch Regionen, die darunter gelitten haben, z. B. durch Arbeitsplatzverluste. «Ich habe im Studium anhand von Modellen gelernt, dass Handel zu mehr Wohlstand führt. Das Problem ist, dass diese Modelle die Anpassungszeit meist schlecht abbilden», sagt Gehring. Und genau mit solchen Anpassungen haben gewisse Regionen durch den Aufstieg von China zu kämpfen – China beeinflusst fundamental die Preise und wie Handel abläuft.
Der Aufstieg Chinas ist nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch relevant. China will als grosser Player auf der Weltbühne mitreden. Dies zeigt sich z. B. darin, dass China in internationalen Organisationen immer aktiver wird. Was wiederum eine Auswirkung auf die weltweite politische und wirtschaftliche Lage hat. Doch trotz der grossen Ambitionen Chinas Führung, ist nicht zu ignorieren, dass das Land auch vor grossen Herausforderungen steht. Chinas Einwohnerzahl wird schrumpfen und es ist ein Rückgang der Menschen im arbeitsfähigen Alter vorauszusehen. Dies ist besonders kritisch, weil China nicht über ein gut funktionierendes Rentensystem verfügt. «Eine Auswirkung könnte sein, dass Chinas Arbeitskräfte teurer werden und dadurch auch die Preise der Produkte steigen», so Sturm.
«Ich spreche ein wenig aus der Glaskugel», sagt Gehring, als er seine Prognosen formuliert. Und es ist klar: Vorhersagen sind immer schwierig und mit Vorsicht zu geniessen. Schliesslich kann immer ein sogenannter «Black Swan» eintreffen – ein sehr unwahrscheinliches Ereignis, welches grosse Auswirkungen hat. Sowohl Corona als auch der Ukraine-Krieg können als Black Swans bezeichnet werden, denn niemand hat sie kommen sehen. Trotzdem wagen Sturm und Gehring ein paar Aussagen:
«Im Ukraine-Krieg werden wir wahrscheinlich in den nächsten Jahren eine diplomatische Lösung finden. Die Herausforderung wird sein, das nötige Commitment der beiden Parteien sicherzustellen», sagt Gehring. Punkto Inflation wagt Sturm eine Prognose: «Es macht den Anschein als hätten wir den Peak erreicht». Wir können also davon ausgehen, dass sich die Situation auch diesbezüglich beruhigen wird.
Ein Thema, welches uns sicherlich noch beschäftigen wird, ist der demografische Wandel. Einerseits wird in der Schweiz – wie in China – die arbeitsfähige Bevölkerung abnehmen. Zumindest, wenn wir die Migration nicht miteinbeziehen. Und dies führt uns gleich zum Andererseits; wird die Bevölkerung insbesondere in Afrika stark ansteigen, was zu Migrationsströmen führen könnte. Gut möglich, dass die Themen noch einige Debatten provozieren. Ausser natürlich ein Black Swan verändert nochmals alles und es kommt ganz anders.