Katharina Lange ist Affiliate Professor of Leadership am IMD und unterrichtet im Rochester-Bern EMBA. Sie erklärt, dass es in der Natur des Menschen liegt, sich der allgemeinen Meinung einer Gruppe anzuschliessen und abweichende Meinungen nicht zu äussern. Denn aus evolutionärer Sicht ist es lebensbedrohlich, aus einer Gruppe ausgeschlossen zu werden: In früheren Zeiten konnten Menschen allein nicht überleben. Es kostet also Mühe, eine Atmosphäre der Sicherheit zu schaffen, in der die Menschen wirklich sagen können, was sie denken. Doch die Forschung zeigt auch, dass es sich lohnt, denn eine sichere Kultur wirkt sich positiv auf ein Unternehmen aus.
Definition und Stufen der psychologischen Sicherheit
Laut der Harvard-Professorin Amy Edmondson ist psychologische Sicherheit: «Die Überzeugung, dass man nicht bestraft oder gedemütigt wird, wenn man Ideen, Fragen, Bedenken oder Fehler äussert». Timothy Clark beschreibt vier Stufen der psychologischen Sicherheit:
Das Konzept ist für die meisten Menschen intuitiv einleuchtend. «Allerdings klafft oft eine grosse Lücke zwischen dem, was Führungskräfte über ihre Kultur sagen, und dem, was tatsächlich in einem Unternehmen passiert“, sagt Lange. „Versprechungen werden oft gemacht, wenn es gut läuft, und dann vergessen, wenn es schwierig wird», fügt sie hinzu. Führungskrafte können versuchen ein Gleichgewicht zwischen produktiver intellektueller Reibung und sozialen Spannungen zu finden. Wenn dieser Balanceakt gelingt, trägt psychologische Sicherheit zu grösserem Erfolg bei.
Der Wert der psychologischen Sicherheit
Ist psychologische Sicherheit im Unternehmen auch aus einer gewinnorientierten Perspektive sinnvoll? Lange dreht die Perspektive um und sagt: «Überlegen Sie, was passiert, wenn Sie die psychologische Sicherheit in Ihrer Organisation vernachlässigen». Der Fall Boeing ist beispielsweise ein warnendes Beispiel für die katastrophalen Folgen mangelnder psychologischer Sicherheit.
Boeing hatte in den letzten Jahren mit dramatischen Problemen zu kämpfen: Mit dem Verlust von Flugzeugen und Todesfällen. Anhaltende Sicherheitsbedenken haben dazu geführt, dass Boeing mit Ermittlungen der Bundesbehörden konfrontiert ist, Führungskräfte umbesetzt werden und das Vertrauen der Anleger schwindet, da die Kund/-innen ihre Flüge auf Flugzeuge anderer Hersteller umbuchen. Nach Ansicht von Lange hätte eine Kultur der psychologischen Sicherheit, in der sich die Mitarbeitende trauen, auf Fehler hinzuweisen, diese katastrophalen Folgen verhindern können. Und dies ist nur ein Beispiel. Wir erinnern uns vielleicht an Enron und andere Fälle, in denen das Fehlen psychologischer Sicherheit katastrophale Folgen für Unternehmen hatte.
Psychologische Sicherheit schafft auch deshalb einen Mehrwert, weil sie dazu führt, dass vielfältige Teams besser geführt werden. Untersuchungen von Gunter Stahl, Martha Maznevski, Andreas Voigt und Karsten Jonsen zeigen, dass vielfältige Teams – wenn sie gut geführt werden – besser abschneiden als andere Teams. Psychologische Sicherheit ist eines der Elemente, die dafür sorgen, dass solche Teams gut funktionieren und somit zu einer besseren Leistung beitragen können.
«Psychologische Sicherheit ist etwas, das man sich hart erarbeitet und in einer Sekunde zerstört werden kann», sagt Lange. Ähnlich wie Vertrauen muss auch die psychologische Sicherheit aufgebaut werden, während eine einzige negative Erfahrung die Mühen wieder zunichte macht. Deshalb hier einige Empfehlungen, wie in einem Unternehmen psychologischer Sicherheit geschaffen werden kann:
Gleiche Zeiteinteilung
«Die Extrovertierten sollten nicht alle überrollen, und die Introvertierten sollten sich nicht verstecken können», sagt Lange. In einem Team sollten alle Mitglieder ermutigt werden, sich zu äussern. Es ist die Aufgabe der Führungsperson, diejenigen zum Sprechen zu bringen, die sich zurückhalten – jeder trägt etwas bei, und Fragen, Bedenken und Ideen werden klar auf den Tisch gelegt.
Pre-Mortem-Methode
Pre-mortem bedeutet „vor dem Tod“ und ist eine Methode, die von dem Organisationspsychologen Gary Klein geprägt wurde. Im Kern geht es um die Idee der «prospektiven Rückschau»: Das Team stellt sich vor, dass ein Ereignis bereits stattgefunden hat. In der Praxis blickt ein Projektteam auf das Ende eines Projekts voraus und stellt sich vor, es sei gescheitert. Noch bevor das Projekt begonnen hat, diskutiert das Team darüber, warum es nicht funktioniert hat. «In diesem Rahmen haben die Teammitglieder einen sicheren Raum, um ihre Ängste und Bedenken zu äussern», erklärt Lange.
Offen für Negatives
Die meisten Führungskräfte behaupten, sie seien offen für Kritik und herausfordernde Ideen. Aber sind sie das wirklich? «Niemand mag negative Nachrichten und Rückmeldungen», sagt Lange. Umso wichtiger ist es, von positiven Absichten auszugehen, zuzuhören und nicht in die Defensive zu geraten. «Den Mut zu haben, Menschen zuzuhören, die Fehler melden, ist der Schlüssel zur psychologischen Sicherheit», fügt sie hinzu.
Bescheidenheit, Mut und Einfühlungsvermögen
Zu den Führungsfähigkeiten gehören Demut (Selbstvertrauen und ein „Alleslerner“, nicht ein «Alleswisser»), Einfühlungsvermögen (die Fähigkeit, die Perspektive eines anderen einzunehmen) und Mut (die Fähigkeit, schwierige Themen anzusprechen), die wichige Bestandteil der psychologischer Sicherheit sind – und ein hervorragendes Gegenmittel gegen gefährliche Abwehrhaltung und Arroganz.
«Die psychologische Sicherheit liegt in den Händen eines jeden. Wir alle sind Teil einer Kultur. Und Führungskräfte tragen eine besondere Verantwortung, weil sie Vorbilder sind und mit gutem Beispiel vorangehen können. Indem sie Verletzlichkeit zeigen und Fehler zugeben, können sie einen grossen Beitrag zur Schaffung einer Kultur der psychischen Sicherheit leisten», sagt Lange.
Psychologische Sicherheit ist auch lernbar. Führungskräfte können sich mit dem Konzept vertraut machen und lernen, wie sie es in ihren Teams und Organisationen fördern können. Auch wenn dies Zeit und Geduld erfordert, ist es die Mühe wert: Es macht nicht nur die Zusammenarbeit angenehmer, sondern zahlt sich auch wirtschaftlich aus. Deshalb unterrichtet Lange das Thema am Rochester-Bern EMBA.