Manchmal kommen Leute auf Angela Matthes zu und sagen: «Toll, dass du als Frau CEO geworden bist». Das ist aber nicht der Fall, denn Angela sah zu Beginn ihrer Tätigkeit als CEO bei der Baloise Lichtenstein noch wie ein Mann aus. Erst 2014 wird aus Herrn Matthes öffentlich und für alle sichtbar Frau Matthes. Im CAS Leadership & Inclusion erzählt sie von ihrem beeindruckenden Prozess. Heute ist die Rochester-Bern EMBA-Absolventin Gründerin von becurious.li und ihre Arbeit hat sie von Liechtenstein nach Afrika geführt, wo sie dabei ist, eine «Purpose»-basierte Organisation zu schaffen, welche Gemeinschaften mit tiefen Einkommen über dezentrale Blockchain Lösungen, Zugang zu Finanz- und Absicherungsthemen bieten.
Ihre Geschichte geht weit über das Thema Transgender hinaus. Sie ist eine Inspiration für mehr Menschlichkeit, den Mut, die Komfortzone zu verlassen und eine bessere Führungskraft zu werden.
«Es hat 47 Jahre gedauert, bis ich zu Angela wurde», sagt Matthes. Aber das Thema hat sie immer begleitet. Auch wenn sie lange versuchte, ihre Geschlechtsidentität zu verdrängen, kam sie immer wieder zurück. Letztlich hat sie das auch zu dem gemacht, was sie heute ist. Denn ihre Transidentität versuchte sie mit harter Arbeit zu überdecken, was ihr eine steile Karriere bis zur CEO der Baloise Liechtenstein ermöglichte.
Als sie 2013 ihre Stelle als CEO Liechtenstein antrat, war dieser Wechsel ihre Chance für ein Coming-out: Ein familiäres Unternehmen mit 30 Beschäftigten, in dem sie die Weichen für eine gute Beziehung zu den Mitarbeitenden stellen konnte. Doch dies ging nicht von heute auf morgen, sondern war ein gut durchdachter Prozess, den Matthes in Gang setzte – ein Prozess, aus dem wir alle lernen können, wenn wir selbst in eine Situation kommen, in der wir etwas verändern wollen. Hier sind die Lehren aus ihrer Erfolgsgeschichte
Matthes Reise zu ihrer wahren Identität begann schon früh – lange vor 2014. Bereits als Jugendliche begab sie sich mit ihrer Familie in psychologische Behandlung, weil sie merkte, dass sie sich in ihrem Körper nicht wohl fühlte. Durch viel Unwissenheit und mangelnde Aufklärung in der damaligen Zeit endete dieser Prozess leider in einer Sackgasse und Angela Matthes entschied sich, ihre Geschlechtsidentität zu unterdrücken. Zu gross war die Scham und der Druck von aussen, der ihr die Botschaft vermittelte: «Werde wieder normal, mit dieser Einstellung ruinierst du dein Leben».
Später gewann Matthes einen Teil ihrer Identität zurück, indem sie sich in ihrer eigenen Wohnung bewegen und kleiden konnte, wie sie wollte. 2007 unternahm sie Reisen nach New York und wagte sich als Frau in die Welt hinaus. Sie fasste Mut und begann auch, erste enge Bekannte in ihre neue Identität einzuweihen. Diese Schritte waren nötig, bevor sich Matthes 2014 auch gegenüber ihrem Arbeitgeber und den Mitarbeitenden zu öffnen wagte. Fazit: Manchmal braucht es viele kleine Schritte aus der Komfortzone hinaus, um etwas Grosses zu erreichen.
Als Matthes dem Leiter Group HR der Baloise-Gruppe erklärte, dass sie künftig als Frau leben wolle, sagte er: «Ja, super, dann machen wir doch diese Woche eine Meldung im Intranet und ab kommenden Montag kommst Du als Angela zur Arbeit». Die Offenheit und der schnelle Vorschlag waren gut gemeint und wurden von Matthes geschätzt, aber sie wusste auch, dass das nicht gut gehen würde: Sie hatte 47 Jahre Zeit, sich auf diesen Schritt vorzubereiten, für die Menschen im Unternehmen wäre es eine Konfrontation gewesen.
Matthes wählte deshalb einen anderen Weg. Sie machte ihr Umfeld zu Wegbegleitern. Sie hat unzählige persönliche Gespräche geführt, hat alle Sorgen ernst genommen und ist darauf eingegangen. Ihre Tür stand offen und sie beantwortete Fragen. Ein Thema war zum Beispiel, wie es wäre, wenn sie jetzt die Damentoilette benutzen würde. Matthes schlug vor, dass sie von den mehreren Damentoiletten immer nur eine benutzen würde. Wenn es jemandem unangenehm wäre, sie auf der Damentoilette anzutreffen, könnte diese Person diese einte Toilette einfach meiden. Mit solchen Gesten zeigte sie Offenheit und Sensibilität für die Bedürfnisse aller.
Am Ende, sagt Matthes, war es kein einseitiges Coming-out, sondern ein gegenseitiges. Dass sie ihre Geschichte mit den Menschen im Unternehmen geteilt habe, habe einen sehr positiven Nebeneffekt gehabt: Jetzt trauten sich die Menschen auch, mit persönlichen Dingen zu ihr zu kommen, und auch untereinander sei das gegenseitige Verständnis, die Offenheit und die Bereitschaft zur Verletzlichkeit gewachsen. Im Unternehmen herrschte nach dem Coming- Out ein neuer Umgang mit Verletzlichkeit.
«Verletzlichkeit ist zur neuen Superkraft der Führung geworden. Man versteckt sich nicht mehr, sondern kann authentisch seine Meinung kundtun», sagt Matthes, «und man darf auch sagen, wenn man etwas nicht weiss». Die Zeiten, in denen eine Führungskraft glaubte, alles zu wissen, sind vorbei. Die Welt wird immer komplexer und wir sind mehr denn je auf das Wissen und die Fähigkeiten anderer angewiesen. Wer von sich sagen kann: «Ich weiss nicht alles und vertraue bei Entscheidungen auch anderen», führt besser und schafft eine Organisation mit hoher Resilienz in einer ‘VUCA’ Welt.