Dieses klare Regelwerk ist sicherlich auch einer der Erfolgsfaktoren von Holakratie; denn in einer Welt, in der Konzepte wie Zielorientierung, Selbstorganisation und Eigenverantwortung immer wichtiger werden, bietet die Holakratie eine konkrete Antwort, wie Unternehmen dies umsetzen können. «Die Konzepte, die hinter der Holakratie liegen, wie Selbstorganisation und Zielorientierung sind alt. Was die Holakratie abhebt, ist, dass sie nicht nur eine Idee formuliert, sondern detailliert beschreibt, wie ein solches System umgesetzt werden kann – sie bietet eine konkrete Anleitung», sagt Bättig. Diese Aussage bestätigt auch Herr Baumgartner: «Holokratie ist relativ einfach einzuführen, denn das Regelwerk gibt die die Formate und Prozesse vor und man kann diese ähnlich einem Kochrezept oder einer Bauanleitung anwenden.» Danach passt man dies nach eigenen Bedürfnissen an und gestaltet zusammen die Organisation.
Weg von der Eltern-Kind-Beziehung
Douglas McGregor hat bereits 1960 zwei entgegengesetzte Menschenbilder definiert: Einerseits Theorie X, gemäss welcher der Mensch eine angeborene Abneigung gegen die Arbeit hat und versucht ihr aus dem Weg zu gehen. Dem gegenüber steht andererseits Theorie Y, die besagt, dass die Arbeit für Menschen eine wichtige Quelle der Zufriedenheit ist und dass er von Natur aus leistungsbereit und von innen motiviert ist. Es liegt auf der Hand, dass Holakratie – die stark auf Eigenverantwortung setzt – vom Menschenbild Y ausgeht.
Für Bättig ist klar, dass wir nach Menschenbild Y funktionieren. Er sieht den Beweis dafür im Privatleben: «Wir treffen wichtige Entscheidungen, wie Heiraten, Kinder bekommen und Häuser bauen. Und dabei fragen wir auch keine Chefin oder keinen Chef». Wenn die Menschen sich in diesen Bereichen selber organisieren können und Eigeninitiative zeigen, warum sollte es in der Arbeitswelt anders sein?
Das Problem ist, dass in vielen Unternehmen Strukturen herrschen, welche die Menschen in eine «Eltern-Kind-Beziehungen» drängen, sodass sie sich schlussendlich nach Schema X verhalten. Dies geschieht wie folgt: Der oder die Vorgesetzte hält seine Mitarbeitenden für unmündig und kontrolliert sie deshalb auf Schritt und Tritt (teils nicht einmal bewusst). Die Mitarbeitenden wiederum fühlen sich durch die konstante Kontrolle und Zurechtweisung entmutigt. Sie werden frustriert, hören auf selber zu denken und tun einfach noch das, was ihnen gesagt wird. Dies bestätigt den oder die Vorgesetzte in der Ansicht, dass die Mitarbeitenden nichts selber zustande bringen… – ein Teufelskreis! Eine Organisationsform wie Holakratie, die auf Eigenverantwortung setzt, kann diese Abwärtsspirale durchbrechen und dazu führen, dass alle Menschen in einem Unternehmen sich auf Augenhöhe begegnen und mitdenken.
Was alle von Holakratie lernen können
Die Holakratie ist eine in sich schlüssige und durchdachte Organisationsform. Der Erfinder, Brian Robertson, erachtet es deshalb als kritisch, wenn nur einzelne Elemente angewendet werden. «Ich verstehe dieses Argument, denn es gibt gewisse Abhängigkeiten. Zum Beispiel werden die Rollen anhand eines Konsent-Systems definiert und neu gebildet. Das Eine beeinflusst also das Andere», so Bättig. Trotzdem arbeitet Ivo Bättig auch mit den einzelnen Elementen aus der Holakratie: «Auch einzelne Elemente können wertvoll sein. Die Erwartungen dürfen einfach nicht zu hoch liegen. Wer die Meeting-Strukturen der Holakratie einführt, hat erstmals einfach bessere Meetings, aber noch keine Selbstorganisation», erklärt Bättig. Nachfolgend einige Beispiele, von einzelnen Elementen, die Unternehmen übernehmen können:
Ein wichtiger Aspekt der Holakratie ist die Zielorientierung (auf Englisch: Purpose-driven). «In einer holakratischen Organisation geht um die Frage: Warum tun wir dies? Es geht nicht um Befehle. ‘Wir wollen 2030 EU-Marktführer werden’, ist z.B. ein Befehl. Ein Ziel, welches das Warum klärt, führt hingegen zu einer Daseinsberechtigung», so Bättig. Organisationen mit einer Daseinsberechtigung haben motiviertere Mitarbeitende und können auch sonst auf mehr Rückhalt zählen. Somit ist es für Unternehmen grundsätzlich sinnvoll, wenn sie sich mehr nach einem Ziel (Purpose) ausrichten und weniger Befehle erteilen.
Die Einführung von Rollen anstelle von Stellenbeschrieben: Bei einer Rolle wird die Arbeit definiert und nicht die Person, die diese ausführen soll. «Die erste Frage ist: Welche Arbeit muss erledigt werden. Erst in einem zweiten Schritt werden die Rollen mit Personen zusammengebracht», so Bättig. Durch diese Rollenwelt ist ein Unternehmen flexibler und wird der Komplexität der Arbeitswelt eher gerecht. Dieses Konzept wird oft missverstanden und Rollen werden als neue moderne Bezeichnung für Stellen «missbraucht». In einer Rollenwelt übernehme ich Rollen in unterschiedlichen Kontexten und ich wandere nicht mit dieser am Rücken in andere Unternehmensbereiche. Das Denken aus Sicht der Arbeit anstelle der Person führt oft zu Missverständnissen.
Holakratisches Unternehmen haben sehr klar strukturierte Meetings. Gemeinsam wird definiert worüber gesprochen wird, wer wann zu Wort kommt, wann ein Vorschlag gemacht wird und ob er umgesetzt wird. «Diese Meetings sind am Anfang gewöhnungsbedürftig, sie führen aber dazu, dass alle zu Wort kommen und sich nicht immer jene Person, die am lautesten schreit, durchsetzt», so Bättig. Hinzu kommt, dass diese Meetings extrem effizient sind.
Der Konsent-Entscheid, welcher die Holakratie anwendet, ist nicht zu verwechseln mit dem Konsens. Die Idee des Konsent-Entscheides besteht darin, dass nicht bewiesen werden muss, weshalb ein Vorschlag umgesetzt werden soll, sondern, dass jeder Vorschlag grundsätzlich umgesetzt wird, solange niemand zeigen kann, dass er dem Unternehmen schadet. «Wir sprechen hier von einer Widerstands-Minimierung statt Zustimmungs-Maximierung» sagt Bättig. Ein effektives Mittel, um sicherzustellen, dass Vorschläge wirklich ernst genommen werden und um einen laufenden Prozess der Veränderung einzuführen.
Für eine Holakratie ist Transparenz sehr wichtig, damit alle in ihren Rollen entscheidungsfähig sind. «Mitarbeitende können ihre Verantwortung nicht wahrnehmen, wenn sie nicht sämtliche relevanten Informationen haben, die es braucht, um richtig entscheiden zu können», sagt Baumgartner. Holakratische Organisationen legen deshalb viele Daten, Zahlen und auch weitere Informationen offen. Die Tatsache, dass Mitarbeitende bessere Entscheidungen treffen, wenn Informationen transparent sind, ist sicherlich etwas, dass alle Unternehmen mitnehmen können.
Mehr Eigenverantwortung wagen
Das faszinierende an der Holakratie ist, dass sie für viele kritischen Fragen moderner Organisationsführung eine Antwort bereithält und dass sie sich perfekt in die Bedürfnisse und Herausforderungen unserer Zeit einfügt. Viele Beispiele von Unternehmen, die Holakratie anwenden, beweisen auch, dass das System funktionieren kann.
Trotzdem sollte sich niemand blind in das Abenteuer Holakratie stürzen. Wer sich dafür entscheidet, diese Organisationsform einzuführen, muss sich gut vorbereiten und sich Zeit lassen. Eine externe Begleitung – sei es durch professionelle Berater oder einer Person mit Praxis-Erfahrung – ist ebenfalls ratsam. Und auch für jene, die den Schritt noch nicht ganz wagen, bietet Holakratie viele inspirierende Elemente, die Unternehmen ausprobieren können, um agiler, innovativer und effizienter zu werden.
Ivo Bättig ist wichtig zu erwähnen, dass Holakratie kein Allerheilsmittel ist, welche alle Probleme der Organisation lösen kann – und ebenfalls nicht die einzige moderne Organisationsform ist, welche mit diesen oben erwähnten Elementen arbeitet. Viele Organisationssysteme nutzen ähnliche Konzepte – Holakratie ist nur eine von vielen Möglichkeiten erfolgreiche Organisationen für die Zukunft zu gestalten. Aber eine welche sehr gut dokumentiert ist und sich in der Praxis bei vielen Unternehmen auch bewährt hat.